
Wildwest auf der Alp Gritsch
Das Liechtensteiner Militärkontingent wandte vermutlich nur ein einziges Mal Waffengewalt im eigenen Land an. Sie richtete sich nicht gegen die einheimische Bevölkerung, sondern gegen Schweizer Wilderer, die sich auf der Schaaner Alp Gritsch ein Nachtquartier gesucht hatten. Einer sollte nicht mehr nach Hause zurückkehren.
Am 2. Oktober 1840, einem Freitag, hatte der Fürstliche Jagdaufseher Christoph Hartmann sieben Bündner Wilderer bei der Gamsjagd im südlichen Liechtensteiner Alpengebiet entdeckt. Sie waren in den frühen Morgenstunden aus Guscha, Jenins, Malans und Maienfeld aufgestiegen und hatten sich zufällig zu der grösseren Gruppe zusammengeschlossen. In ihrem Heimatkanton achteten sie noch kaum auf das Wild. Ihr Ziel war Liechtenstein. Denn: «Die schönsten Tiere stehen jenseits der Grenze, drüben im fürstlichen Revier, dort, wo selten ein Jäger hinkommt», schrieb Alt-Regierungschef Alexander Frick im Jahr 1970 in seinem Bericht über die Ereignisse in der «Bergheimat» des Alpenvereins. Frick hatte dazu ein dickes Aktenbündel im Landesarchiv ausgewertet.
Der Aufseher kehrt mit 15 Mann zurück
In den späten Nachmittagsstunden des besagten 2. Oktober erlegten die Wilderer ein Tier, das Jagdaufseher Hartmann zuvor angeschossen hatte. Dessen aus einiger Entfernung gegebener Anweisung, es ihm zu überlassen, widersetzten sich die Bündner. Stattdessen kamen sie auf ihn zu, was Hartmann angesichts der Überzahl dazu veranlasste, sich zur Gritscher Alphütte und weiter Richtung Valüna zurückzuziehen. Als die Abenddämmerung einsetzte, beobachtete er, wie die Siebenergruppe die Alphütte erreichte. Aufgrund der zunehmenden Dunkelheit konnte Hartmann davon ausgehen, dass sie die Nacht dort verbringen würden.
Christoph Hartmann machte sich so schnell er konnte auf den Weg nach Vaduz und schilderte seinem Vorgesetzten, Landvogt Johann Michael Menzinger, was geschehen war. «Sofort liess dieser – es ging schon gegen Mitternacht – den Commandanten Bloudek wecken und gab den Befehl: Soldaten hätten sich umgehend Richtung Gritsch in Marsch zu setzen und […] die in liechtensteinisches Gebiet eingedrungenen Wilddiebe dingfest zu machen», schrieb Alexander Frick. Hartmann hatte die 14 Mann, alle hatten sich freiwillig gemeldet, und ihren Befehlshaber Korporal Xaver Sele zu begleiten. 40 scharfe Patronen wurden als Bewaffnung mitgenommen, die schweren Bajonette aber aufgrund des Gewichts im Quartier gelassen. Gegen fünf Uhr morgens kam die Truppe auf Gritsch an. Rauch aus dem Kamin wies darauf hin, dass die Wilderer noch vor Ort waren.
«Jesus, ich bin getroffen»
Die Soldaten stellten sich rund 20 Schritt von der Hütte entfernt auf. Christoph Hartmann hingegen trat ein und grüsste die Wilderer. Diese erschraken, sprangen auf und versuchten, an ihre geladenen Gewehre zu kommen. Hartmann konnte dies bei einigen verhindern, ein Bündner schaffte es aber. Er schlug den Jagdaufseher mit dem Kolben nieder, und ein Schuss löste sich, der den Soldaten Johann Beck buchstäblich um Haaresbreite verfehlte, ihm aber den Backenbart versengte. Das löste eine Kettenreaktion aus: Mehrere Soldaten feuerten ihre einschüssigen Gewehre ab, in die Dunkelheit der Hütte hinein. Daraufhin drängten einige Männer ins Innere, und es entwickelte sich eine wilde Schlägerei, wobei sich die Bündner, ebenfalls militärisch ausgebildet, als ebenbürtige Gegner erwiesen.
Schliesslich machten sich zwar die zahlenmässige Überlegenheit der Liechtensteiner und die Stabilität ihrer inzwischen als Schlagwaffen dienenden Militärkarabiner bemerkbar. Das Handgemenge endete jedoch erst, als einer der Bündner mit den Worten «Jesus, ich bin durch den Bauch getroffen» zusammenbrach und kurz darauf verstarb.
Die Konsequenzen fallen unterschiedlich aus
Die Überlebenden Wilderer mussten ihre Waffen und Messer abgeben und wurden als Gefangene auf Schloss Vaduz gebracht. Intensive Vernehmungen, auch von Jagdaufseher Hartmann und Korporal Sele, folgten. Insgesamt 148 Seiten machten die Protokolle schliesslich aus. Eine Obduktion ergab, dass der Tote, Johann Lampert aus Jenins, von einer abgeprallten Kugel getroffen worden war, die ihm lebensnotwendige Organe zerfetzt hatte. Seine Kameraden wurden erst nach sechs Tagen vom Landvogt entlassen, nachdem die Bündner Regierung für sie gebürgt hatte. Als Grund gab Menzinger unter anderem das Fehlen geeigneter Arrestzellen an.
Verantworten mussten die Wilderer sich für ihre Tat nicht mehr. Zu verdanken haben sie dies dem späteren Fürsten Johann II., der dem Beinamen «der Gute», den er im Alter vom Volk erhielt, bereits als Neugeborener alle Ehre machte. Denn aus Anlass seiner Geburt am 5. Oktober 1840 hatte Fürst Alois II. eine Amnestie für alle Vergehen gegen fürstliches Eigentum erlassen – zu einem Zeitpunkt, als er noch unmöglich von den Vorgängen auf Gritsch wissen konnte. Die Telegrafenverbindung zwischen Liechtenstein und Wien wurde doch erst 1869 in Betrieb genommen.
Nicht ganz so glimpflich kam Landvogt Menzinger davon. Er fing sich eine deftige Rüge von Alois II. ein, da er die Bündner ohne dessen Einwilligung entlassen hatte. Sie schloss mit den Worten: «Der Diener soll seinem Herrn in Gnadenakten nie vorgreifen.» Belobigt wurde hingegen Christoph Hartmann. Als Anerkennung erhielt er den Doppelstutzen eines Wilderers und das Pulverfass eines anderen.
Auftaktfoto: Alp Gritsch 1912 / Gemeindearchiv Schaan