
Serie Waldgeflüster: Der Luchs – Überraschungsjäger auf leisen Pfoten
Auch wenn er lange Zeit in unserer Region als ausgerottet galt, hat sich der Luchs in den vergangenen Jahrzehnten seinen Lebensraum zurückerobert. Es ist eine grosse Ehre, dass sich Europas grösste Wildkatze bereit erklärt hat, auf seinem Streifzug durch den Schaaner Wald ein Päuschen einzulegen und uns ein Interview zu geben.
Du bist wunderschön mit deinem gefleckten Fell, den grossen Pranken, den coolen Pinselohren, dem Backenbart und deinem kurzen Schwanz. Eigentlich siehst du aus wie unsere Hauskatzen – nur grösser und ohne Schwanz. Seid ihr verwandt?
Das sind wir. Luchse gehören zur Familie der Katzen – genauso wie der Gepard oder Puma. Wie eure Hauskatzen kann ich auch schnurren, schreien, miauen und jammern. Ich bin mit einer Schulterhöhe bis zu 75 Zentimetern und einem Gewicht bis zu 30 Kilogramm Europas grösste Raubkatze und neben Bär und Wolf wohl das stattlichste Raubtier in dieser Region. Wenn ich meine Zehen spreize, funktionieren meine Pfoten wie Schneeschuhe und helfen mir im Winter, nicht im Schnee einzusinken. Und mein Fell ist eine optimale Tarnung. Im Sommer ist es eher rötlich bis gelbbraun. Im Winter gräulich. So kann ich mich im Wald gut verstecken und an meine Beute heranschleichen. Das Revier eines Männchens ist übrigens rund 150 Quadratkilometer gross – was fast den Landesgrenzen Liechtensteins entspricht. Jenes der Weibchen ist mit 100 Quadratkilometern etwas kleiner.
Welche Tiere hast du denn zum Fressen gern?
Meine Speisekarte ist recht vielfältig. Am liebsten habe ich kleine und mittelgrosse Huftiere wie Rehe, Gämsen und Kälber von Rothirschen. Wenn ich diese nicht finde, fresse ich aber auch Vögel, Füchse, Marder, junge Wildschweine, Mäuse und Murmeltiere. Übrigens bin ich ein «Überraschungsjäger». Wie eure Hauskatzen schleiche mich an meine Beute heran und springe dann nach einem kurzen Spurt auf sie. Wenn ich ein Tier gerissen habe, fresse ich es über die folgenden Tage ganz auf – oder zumindest fast ganz. Ich liebe zwar Muskelfleisch, mag aber die Innereien nicht. Grundsätzlich jage ich nur in der Dämmerung und nachts, wobei mir meine ausgezeichneten Ohren und Augen helfen. Meine langen Haarpinsel, die ich wie Antennen in alle Richtungen bewegen kann, funktionieren wie Hörgeräte. Mit dieser Technik kann ich sogar eine Maus in 250 Metern Entfernung hören. Noch ein kleiner Funfact zu meinem Namen: «Luchs» stammt aus dem altgriechischen «Lynx» und bedeutet «Schimmern». Die Umschreibung bezieht sich auf meine schönen Augen, die in der Nacht goldgelb leuchten.
Anfang des 20. Jahrhunderts galt der Luchs im westlichen Mitteleuropa als ausgerottet. Wie hast du es geschafft, dich in die Region zurückzukämpfen?
Die Ausrottung meiner Vorfahren begann im 19. Jahrhundert. Es sind immer mehr Menschen gekommen, die sich ausgebreitet, Häuser und Strassen gebaut und Wälder gerodet haben. So wurde unser Lebensraum kleiner und kleiner. Aus Not und Hunger sind wir schliesslich zu Viehräubern geworden, weshalb uns die Bauern gnadenlos und systematisch gejagt haben … so lange, bis meine Vorfahren ausgerottet waren. Glücklicherweise haben Naturschützer dafür gesorgt, dass in den 1970er-Jahren wieder einige Luchse in den Wäldern Deutschlands, Sloweniens, Tschechiens und Österreichs und der Schweiz ausgewildert wurden. So konnten wir uns langsam wieder ausbreiten. Seit der Ausrottung vor über 150 Jahren wurde 2004 erstmals wieder ein Luchs in Liechtenstein gesichtet. 2007 hat sogar jemand auf Gafadura ein Foto von einem meiner Verwandten geschossen. Seither hat man immer wieder mal unsere Spuren entdeckt, und es gab die eine oder andere Sichtung. Wir durchstreifen am liebsten grosse, höher gelegene Waldareale mit dichtem Unterholz. Dabei sind wir nützlich für die Natur. Denn wir nehmen positiven Einfluss auf den Lebensraum, indem wir dazu beitragen, die Anzahl der Tiere im Gleichgewicht zu halten.
Und wie steht es um den Nachwuchs?
Wir Luchse sind Einzelgänger. Deshalb treffen sich die Männchen und Weibchen nur in der Paarungszeit im Frühlig. War das Date erfolgreich, kommen ein bis vier Babys zur Welt, die von der Mama allein grossgezogen werden. Erst nach rund zehn Monaten gehen die Jungen ihre eigenen Wege. An dieser Stelle danke ich nochmals allen Tierschützern, die uns die Chance gegeben haben, hier wieder heimisch zu werden. Wir hoffen sehr, dass uns die Menschen freundlich gesinnt bleiben. Vielleicht streifen dann schon bald wieder mehr von uns durch Liechtenstein.
Auftaktbild: Walser Grafik / Fotos: Pixabay