Serie Waldgeflüster: Das Reh – mit dem Augenaufschlag zum Verlieben
«Scheu wie ein Reh» – der Spruch kommt nicht von ungefähr. In der Regel sind Rehe blitzschnell verschwunden, kaum dass ein Mensch in Sichtweite gerät. Erhaschen wir Zweibeiner aber dennoch einen Blick auf das edle Tier, sind wir sofort in seine wunderschönen grossen Augen verliebt. Bambi lässt grüssen. Was das Reh selbst zu diesem Vergleich meint, erzählt es im Interview.
Jeder kennt und liebt Bambi. Nervt es dich, immer mit dieser Disneyfigur in Verbindung gebracht zu werden?
Ein bisschen schon – vor allem, weil Bambi gar kein Rehkitz ist, sondern ein Hirschkalb! Viele Menschen verwechseln Rehe und Rothirsche. Dabei ist der Unterschied ganz einfach: Wir Rehe sind viel kleiner und zierlicher. Ein erwachsenes Reh wiegt etwa 25 Kilo – ein Zehntel eines Hirschs! Ausserdem ist unser Hinterteil höher gebaut als die Schultern. Deshalb nennt man uns auch «Ducker» oder «Schlüpfer». Eigentlich ganz passende Namen, denn bei Gefahr ducken wir uns blitzschnell ins Gebüsch. Der Grössenunterschied zeigt sich übrigens auch im Geweih. Zwar tragen die Herren sowohl bei den Rehen als auch bei den Hirschen ein Geweih. Aber das unserer Rehböcke wiegt gerade mal ein halbes Kilo, während Hirsche bis zu 15 Kilo herumtragen müssen. Und auch durch unsere Lebensweise unterscheiden wir uns: Während Hirsche in grösseren Gruppen leben, sind wir meist als Einzelgänger unterwegs. Als letztes Merkmal möchte ich unsere Schönheit anfügen. Wir Rehe haben im Vergleich zu den Hirschen viel grössere, dunkle Augen. Da haben sich die Erfinder der Disney-Figur Bambi definitiv an uns orientiert.
Du erwähnst, dass ihr häufig Einzelgänger seid. Ihr mögt die Gesellschaft anderer also nicht?
So absolut würde ich es nicht formulieren. Wir sind zwar etwas eigen, doch im Winter ist ein bisschen Gesellschaft manchmal ganz nett. Den Rest des Jahres leben wir aber allein oder im kleinen Familienverband – meist eine Geiss und ihre Kitze. Die Böcke markieren ihr Revier im Frühling mit Duftstoffen an Bäumen und Sträuchern. Männliche Rivalen werden dabei energisch verjagt. Nur wir Geissen werden im Territorium geduldet. In der Paarungszeit zwischen Mitte Juli und Mitte August gibt es dann auch das eine oder andere Date mit den Herren – und im darauffolgenden Frühling kommen bestenfalls Zwillingskitze zur Welt. Sie bleiben etwa ein Jahr bei ihrer Mutter, von der sie gut umsorgt und beschützt werden. Dabei halten sie sich am liebsten am Waldrand auf, wo es viele Verstecke und frische Pflanzen gibt.
Was steht bei euch auf dem Speiseplan?
Wir Rehe sind Feinschmecker! Wir fressen am liebsten junge, zarte Pflanzen, Knospen und Kräuter – also alles, was leicht verdaulich und nährstoffreich ist. Deshalb nennt man uns auch «Verdaulichkeitsselektierer». Kompliziertes Wort mit einfacher Bedeutung: Wir wissen einfach instinktiv, was unserem Körper guttut. Das ist aber auch wichtig, denn unser Pansen – der grösste Teil des Wiederkäuer-Magens – ist nur halb so gross wie derjenige eines Hirschs. Er ist also auch schneller gefüllt, und wir müssen effizienter verdauen. Es gilt das Motto: Qualität statt Quantität!
Und wie sieht es mit Feinden aus? So schnell, wie ihr euch im Gebüsch verstecken könnt, macht ihr es Raubtieren sicher nicht einfach.
Wir sind zwar schnell, aber leider nicht immer so schnell, wie wir es gerne wären. Luchse jagen uns oft – für sie gehören wir Rehe sogar zur Hauptnahrung. Und für den Steinadler und teils auch den Fuchs sind unsere Kitze leichte Beute. Die grösste Gefahr geht aber vom Menschen aus. Und zwar nicht nur von Jägern, die unsere Zahl im Gleichgewicht halten wollen, sondern auch von den Vierbeinern einiger Hundehalter. Sie versetzen uns in Panik und hetzen uns manchmal über Kilometer durch den Wald. Besonders gefährlich sind Mähmaschinen. Jedes Jahr sterben dadurch Rehkitze, die sich im hohen Gras verstecken. Zum Glück gibt es inzwischen tolle Menschen, die sich in der Drohnenkitzrettung engagieren. Sie scannen die Felder ab, bevor ein Landwirt die Maschinen startet. Dafür sind wir Rehe unendlich dankbar.
Was machst du eigentlich, wenn du dich mal entspannen willst – also kein Jagen, kein Verstecken, kein Fressen?
Oh, das ist leicht! Ich liebe es, auf einer sonnigen Waldlichtung zu liegen und wiederzukäuen. Das ist quasi unser Yoga. Und wenn dann noch die Amseln singen und der Wind durch die Blätter rauscht – herrlich! Da kann ich richtig abschalten. Einfach mal nur die Natur zu geniessen, würde euch Menschen auch guttun.
Grafik: Walser Grafik Est. / Fotos: Pixabay