
Serie Waldgeflüster: Der Feldhase – Langohr mit Turbobooster
Mit seinen kräftigen Hinterläufen rennt er schneller als so manches Auto, trickst seine Feinde mit Hakenschlagen aus und hat ein ganz besonderes Futtergeheimnis: der Feldhase, der grösste Hase in Europa. Sein Markenzeichen: seine Löffel – die langen Ohren, an deren Spitze sich ein dreieckiger, schwarzer Fleck befindet. Im Interview erzählt er aus seinem rasanten Leben.
Herr Feldhase, woher kommen eigentlich deine vielen Spitznamen?
Oh, das ist witzig. Manche nennen mich «Langohr» – die Frage nach dem Warum erübrigt sich da. Andere sagen «Mümmelmann». Dieses Kosewort bezieht sich auf mein Fressverhalten. Denn das Verb «mümmeln» beschreibt schnelles Kauen oder Nagen – also genau das, was ich mache, wenn ich mit meinen langen Zähnen Gras knabbere. Und dann gibt es noch den «Meister Lampe». Der Name stammt aus einem alten Märchen und spielt auf die weisse Unterseite meines Schwanzes an. Wenn ich bei Gefahr davonhoppeln muss, blinkt dieser Teil wie eine kleine Lampe und verwirrt so meine Feinde. Clever, oder? Nur mit dem Übernamen Osterhase identifiziere ich mich nicht so. Dabei handelt es sich um einen entfernten Verwandten, der nur ein paar Tage im Jahr arbeitet und sonst nie zu sehen ist.
Dich sieht man ja auch eher selten. Wo wohnst du eigentlich?
Ich bin ein Einzelgänger, ziemlich scheu und meistens nachts unterwegs. Am liebsten lebe ich auf trockenen und offenen Flächen mit einer guten Rundumsicht. Ich wohne also neben dem Wald, nicht im Wald. Mein Bodenloch, Sasse genannt, wähle ich so, dass ich mein Umfeld von dort aus möglichst weit überblicken kann. Wer auf offenem Feld lebt, muss natürlich doppelt aufpassen. So nehme ich schon die kleinsten Bodenerschütterungen sofort wahr. Sind mir Feinde auf den Fersen, rase ich mit bis zu 80 Kilometern pro Stunde übers Feld und schlage dabei plötzliche Haken, damit mich Fuchs und Co. nicht erwischen. Dann hüpfe ich mit einem grossen Sprung in mein Bodenloch, drücke mich tief auf den Grund und verharre dort ganz still mit angelegten Ohren, bis die Gefahr vorüber ist. Durch mein braunes Fell bin ich dann fast unsichtbar. Und da ich an meinen Pfoten keine Duftdrüsen habe – eine Besonderheit, die mir schon oft das Leben gerettet hat – können mich meine Fressfeinde nur schwer finden, wenn sie mich nicht mehr im Sichtfeld haben. Übrigens: Im Winter lasse ich mich in meiner Sasse sogar einschneien. Die Schneedecke ist dann wie ein wärmender Mantel.
Was frisst du am liebsten?
Ich bin Vegetarier und fresse nur Pflanzen: Wildkräuter, Gräser, Getreide, Rüben, Samen, Knospen, Triebe und Rinden. Und jetzt verrate ich dir ein Geheimnis: Manchmal fresse ich etwas, das die meisten eklig finden – meinen eigenen Blinddarm-Kot. Das mache ich im Winter, wenn es kaum Grünpflanzen gibt und ich so zu wenig Vitamine zu mir nehme. Der besagte Kot ist nämlich besonders vitaminreich und hilft mir, gesund zu bleiben. Man nennt das Caecotrophie. Diese Taktik wenden nicht nur wir Hasen, sondern auch sehr viele Nagetiere wie Mäuse, Biber, Meerschweinchen und Hamster an.
Wie sieht’s denn mit der Liebe aus?
Ui, eine aufregende Frage. Bei uns auf dem Feld müssen wir Rammler – also die Männer – erst einmal um die Gunst des weiblichen Geschlechts werben. Dabei beweisen wir in spektakulären Wettläufen und Boxkämpfen unsere Ausdauer und Kraft. Wenn sich die Häsin am Ende nicht entscheiden kann, wer ihr Herz verdient hat, wählt sie gleich mehrere Rammler aus. Dadurch kommen innerhalb eines Wurfs Mehrfach-Vaterschaften vor. Eine weitere Besonderheit: Die Häsin kann noch während der Schwangerschaft erneut trächtig werden kann. In ihrer Gebärmutter befinden sich dann Embryos in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. So kommen schnell viele kleine Babyhasen zu Welt.
Was können wir Menschen für dich tun?
Weil die Bauern ihre Felder immer intensiver beackern, verliere ich Wohnraum und Nahrungsangebot. Auf den riesigen abgeernteten Ackerflächen ohne Versteckmöglichkeiten haben meine Feinde natürlich ein leichtes Spiel. Ausserdem macht uns die viel zu grosse Anzahl an Störchen zu schaffen, die sich mittlerweile das ganze Jahr über auf den Feldern aufhalten. Sie fressen unseren Nachwuchs. Deshalb würden wir uns wünschen, dass die Menschen wieder mehr Natur zulassen und es wieder mehr Hecken und natürliche Wiesenstreifen an den Ackerrändern sowie Ökoflächen gibt. So, jetzt muss ich weiter. Hoppel-di-hopp! Bis bald.
Grafik: Walser Grafik Est.