Im Visier eines Wilderers
Rubert Gruber 1888-1950
Am 30. April 1897 begleitete der neunjährige Rupert Gruber seinen Vater nach Dux. Noch vor Sonnenaufgang begannen die beiden mit dem Sammeln von Maikäfern, als plötzlich ein Schuss fiel. Rupert war am Kopf getroffen worden. Er fiel bewusstlos zu Boden, und aus einer grossen Schussöffnung quoll viel Blut. Wie sich später herausstellen sollte, hatte ein Wildschütz den Knaben tragischerweise mit einem Reh verwechselt. Der Täter hatte sich im nahen Wald aufgehalten und suchte sogleich das Weite.
Der geschockte Vater trug seinen Sohn sofort ins Dorf hinunter, wo Dr. Brunhart den schwerverletzten Knaben verarztete und verband. Rupert wurde nach der Erstversorgung nach Hause gebracht und nicht ins nahegelegene Schaaner Armenhaus eingeliefert, das seit 1873 als zentrales Krankenhaus in Liechtenstein diente. Noch am gleichen Tag suchte der Vater des Opfers den Schaaner Vorsteher Ferdinand Walser (1848-1934) auf. Unverzüglich wurde eine Anzeige bei der fürstlichen Regierung erstattet. Darin vermerkte Walser, Rupert Gruber sei von unbekannter Hand angeschossen worden und werde die Verletzungen wahrscheinlich nicht überleben.
Ruperts Vater Martin Gruber (1854-1917) stammte aus Kortsch in Südtirol und arbeitete in der Bierbrauerei Quaderer in Schaan. Seine Mutter Aloisia Gruber-Hilti (1849-1911) war eine gebürtige Schaanerin. Rupert hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder. Die drei waren Cousins des späteren Schaaner Vorstehers Johann Hilti (1885-1955).
Landesphysikus Wilhelm Schlegel (1828-1900) besuchte am darauffolgenden Tag den verletzten Knaben. Wie er berichtete, war Rupert wieder bei Bewusstsein und „rührte sich in seinem Bett ohne weitere Hilfe von einer auf die andere Seite“. Beim Untersuch stellte Schlegel fest, dass der Schädelknochen und die harte Hornhaut vom Geschoss durchschlagen wurden und das rechte Hirnbein im Durchmesser von drei Zentimeter zersplittert war. Die Blutgefässe an dieser Stelle waren geplatzt, wodurch sich laut Schlegel nach dem Schuss ein ziemlicher Blutverlust einstellte.
Das ins Gehirn eingedrungene Projektil konnte nach Ansicht des Landesphysikus keine gewöhnliche Kugel eines Jagdstutzers gewesen sein. Das Geschoss sei darum nicht tief in den rechten grossen Gehirnlappen eingedrungen, andernfalls hätte sich Rupert nicht so rasch erholt. Die Schussverletzung sei dem Knaben vermutlich
durch ein grösseres Schrotkorn beigebracht worden, stellte Schlegel in seinem Gutachten weiter fest. Es handle sich wahrscheinlich um einen sogenannten Posten
(wie grössere Schrotkugeln für die Jagd auf Schalenwild wie Reh, Hirsch oder Wildschwein bezeichnet werden, Anm. d. V.).
Der Befund von Landesphysikus Schlegel wurde bestätigt, als Dr. Alfons Brunhart drei Wochen später eine grosse Schrotkugel operativ aus der linken Schläfe des Knaben entfernte. Wie Landesverweser In der Maur in der Regierungsakte zu diesem Kriminalfall vermerkte, war kurz nach der Tat der Fabrikarbeiter Bonifaz Haas, wohnhaft im Mühleholz, als Schütze überführt worden.
Rupert Gruber durchlief zunächst die Pflichtschule in Schaan. Sein Lehrer Rudolf Quaderer hatte ihm ein ausgezeichnetes Abschlusszeugnis ausgestellt, worauf Gruber eine Lehre im aufblühenden Baugeschäft Hilti antrat. Mit der Besitzerfamilie verband ihn zeitlebens eine enge Freundschaft. Nach der Lehre konnte Rupert an der k. u. k. Staatsgewerbeschule in Innsbruck die Ausbildung zum Werkmeister absolvieren. Im März 1910 schloss er die renommierte Baufachschule mit „vorzüglichem Gesamterfolg“ ab.
Im jungen Alter von sechzehn Jahren war Rupert dem Männerchor beigetreten. Als fleissiger Sänger hielt er dem Männerchor viele Jahrzehnte die Treue. Anlässlich der Gesangsprobe vom 18. Dezember 1915 wurde im Männerchor der Beschluss gefasst, dem Mitglied Rupert Gruber, der als österreichischer Soldat gegen Italien im Felde stand, ein kleines Weihnachtsgeschenk zu senden. Alexander Risch und Ludwig Beck erklärten sich bereit, für zirka zehn Kronen Lebensmittel zu besorgen.
Wehrfähige deutsche und österreichische Staatsbürger, die in Liechtenstein wohnten, wurden in beiden Weltkriegen zu den Fahnen gerufen. Rupert und sein jüngerer Bruder Josef wurden in den Kriegsdienst eingezogen. Josef starb wenige Wochen vor Kriegsende an Grippe. Die k. u. k. militärische Leitung des Bahnbaues Payerbach-Reichenau-Hirschwang teilte in ihrer Todesmeldung an die Familie Gruber vom 26. Oktober 1918 weiter noch mit, Josefs Braut Kathi Dorfstätter, geboren in Schottwien in Niederösterreich, befände sich in anderen Umständen.
Kanonier Rupert Gruber geriet 1918 in italienische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung hielt er sich im Raum Feldkirch auf und wollte unbedingt heim nach Schaan. In den Wirren des Zusammenbruchs der Donaumonarchie war es auch für ihn äusserst schwierig, eine Einreisebewilligung nach Liechtenstein zu erhalten.
Mit Hilfe von Freunden konnte Rupert, im Heufuder eines Unterländer Bauern versteckt, über die Grenze gelangen. Die Bewirtschaftung von Grundstücken auf österreichischem Staatsgebiet war den Landwirten schon während des Krieges erlaubt gewesen.
Wieder zuhause in Schaan angekommen, heiratete Rupert die aus Langkampfen bei Kufstein stammende Kamilla Gasser. Die beiden hatten sich in Innsbruck kennengelernt. Kamilla brachte aus einer Beziehung mit einem Engländer die Tochter Milli mit in die Ehe.
Durch den Versailler Vertrag war Gruber italienischer Staatsbürger geworden.
Mit Schreiben vom Dezember 1922 ersucht Rupert Gruber seine Heimatgemeinde Kortsch im Bezirk Schlanders in Südtirol, die Stieftochter Milli auf seinen Namen eintragen zu lassen. Er schreibt weiter: „Ich möchte durch persönliche Annahme desselben das Mädchen legitimieren.“ Dem Antrag wurde stattgegeben. Milli Gruber heiratete später den Schaaner Alwin Walser.
Nach der Rückkehr aus dem Krieg machten sich bei Gruber zunehmend Spätfolgen der Kopfverletzungen bemerkbar, die er als Kind erlitten hatte. Traten solche gesundheitliche Störungen auf, habe er immer angefangen zu singen. Meistens seien es Kirchenlieder gewesen, erinnerte sich seine Enkelin Waltraud Hoepker-Walser. Ihr Grossvater habe seinen Humor trotzdem nie ganz verloren. Ein Beispiel für Grubers Humor ist seiner Enkelin besonders in Erinnerung geblieben: So habe Rupert mit seinen Sängerkollegen eines Tages eine Theateraufführung im Schaaner Vereinshaus besucht, bei der ein Stück auf drei Ebenen gespielt wurde. Die Bühne war das Wohnzimmer, in dem sich die Eltern über ihre drei engelsgleichen, braven Töchter erfreuten, die sich in ihren Gemächern über der Bühne auf der Theatergalerie aufhielten. Doch unbemerkt der Eltern warteten im Parterre sehnsüchtig, die mit Leitern ausgerüsteten Liebhaber der jungen Frauen.
Die Szene habe bei Rupert so starke Lachkrämpfe verursacht, dass sich bald nicht nur er, sondern auch seine Kameraden vor Lachen krümmten und ins Freie flüchten mussten. Grubers herzhaftes Lachen hatte in der Zwischenzeit das ganze Publikum erfasst, weshalb die Theateraufführung erst nach einem Unterbruch hatte weitergespielt werden können.
Text und Recherche: Albert Eberle
geändert am 17. August 2022