
«Es ist schön, eine Exotin im Dressursport zu sein»
Léonie Guerra ist 22 Jahre alt. Knapp 22 Jahre ist es auch her, dass sie zum ersten Mal auf einem Pferd sass. Damals ist eine Verbindung entstanden, die enger kaum sein könnte und die bis heute anhält. Sie hat dazu geführt, dass die Leistungssportlerin bereits beachtliche Erfolge im Dressurreiten erringen konnte und nährt die Hoffnung auf Liechtensteins erstes Edelmetall bei Olympischen Sommerspielen.
Léonie, wann bist du das erste Mal auf einem Pferd gesessen?
Da war ich noch ein Baby. Als ich aufrecht sitzen konnte, hat mein Grossvater Otto Hofer mich schon vor sich auf den Sattel gesetzt. Damals wohnten wir auch neben seinem Stall. Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich meine Spielsachen vom Balkon geworfen habe, weil ich bei den Pferden spielen wollte (schmunzelt). Im Alter von vier Jahren hatte ich dann mein erstes Pony und bin selbst geritten. Ich war immer schon um unsere Tiere herum und habe von meinem Opa viel über sie sowie den richtigen Umgang mit ihnen gelernt.
Wann hast du dich dann entschieden, das Reiten als Leistungssport und nicht nur als Hobby zu betreiben?
Da war ich 13. In diesem Alter profitiert man enorm vom Training in einer Gruppe. Es stand daher die Frage im Raum, ob ich mich dem Schweizer Juniorennationalkader anschliessen soll. Ich wurde nach einem Vorreiten auch prompt aufgenommen. Denn alle anderen nötigen Kriterien habe ich ebenfalls erfüllt, und ich hatte in früheren Turnieren die nötigen Punkte erreicht. Seither bin ich beim Leistungssport geblieben.
Was macht für dich die Faszination der Pferde aus? Immerhin sind es riesige Tiere, vor denen viele Menschen grossen Respekt haben.
Wenn man mit ihnen aufwächst, merkt man gar nicht, wie gross sie sind. Wenn ich neben einer Kuh stehe, habe ich auch ziemlichen Respekt, obwohl sie im Vergleich mit einem Pferd ja eher klein ist. Pferde sind sehr menschenbezogen und überaus sanfte Wesen, obwohl sie so gross und schwer sind. Behandelt man sie mit Liebe, Geduld und Fairness, achtet aber gleichzeitig darauf, dass sie ihren Reiter respektieren, machen sie alles für ihren Menschen. Dann können auch die Bewegungen, die sie mit ihren 700 Kilogramm Körpergewicht machen, federleicht aussehen. Dazu muss man natürlich ihr Vertrauen gewinnen, da Pferde Fluchttiere sind. Ist einmal ein gutes Verhältnis aufgebaut, unterdrücken sie in neuen oder ungewohnten Situationen ihren Naturtrieb und geben wiederum viel Vertrauen zurück. Das ist eines der schönsten Gefühle, die man sich vorstellen kann.
Das klingt danach, dass du mit den Pferden nicht nur trainierst, sondern auch sonst viel Zeit mit ihnen verbringst.
Das ist so. Die Beziehung und das Vertrauen baut man nicht im Sattel auf. Das geschieht vor allem bei der Pflege. Dennoch komme ich auf jeweils vier Stunden reine Reitzeit an sechs Tagen in der Woche. Zusammen mit Pflege und Vorbereitung komme ich auf 30 Wochenstunden. Damit ich selbst in Form bleibe, gehe ich noch regelmässig ins Fitnessstudio oder auf den Stepper und mache lange Spaziergänge im Wald mit unserem Familienhund. Dabei achte ich darauf, dass ich möglichst zügig und aufwärts unterwegs bin, um die Grundkondition zu fördern.
Wie sieht so eine Trainingseinheit mit den Pferden aus?
Ich bin in der Regel gegen 7.30 Uhr im Stall in Grabs, helfe dabei, die Pferde vorzubereiten, also beispielsweise sie zu satteln und das Zaumzeug anzulegen, und dann reite ich zuerst das älteste meiner drei Tiere. Er ist der Ruhigste von ihnen und lässt sich am besten reiten, da ich ihn seit Jahren kenne und genau weiss, wie er tickt. Das macht auch mich ruhig für das Reiten der beiden anderen. Zuerst steht jeweils eine Aufwärmphase im Schritt an, dann folgt eine Lösungsphase im Trab und Galopp, bei der das Pferd gymnastiziert und locker gemacht wird. Mit einem fliessenden Übergang geht es in die Arbeitsphase, in der an den Figuren bzw. Lektionen gearbeitet wird, und anschliessend feilen wir an den Dressurfiguren. Vor Wettkämpfen gehen wir auch stets das komplette Programm durch. Es dauert etwa fünf Minuten, und jede Figur muss sitzen. Ein Trainingstag pro Woche besteht aus reinem Jogging für die Pferde, ohne dass sie einen Reiter tragen müssen. Der Sonntag ist für uns alle der freie Tag. Dann laufen die Pferde etwa eine Stunde im Schritt. Denn Abwechslung ist für sie äusserst wichtig, damit sie im Kopf nicht träge werden.
Wer begleitet dich während der Trainings?
Mein Grossvater ist fast immer dabei. Als ehemaliger Olympiareiter kennt er sich mit den Tieren bestens aus und unterstützt mich vor allem auch dann, wenn sie einmal zu viel Energie für eine reguläre Trainingseinheit haben oder unruhig sind, weil beispielsweise das Wetter umschlägt. Dann nimmt er sie an die Longe und geht mit ihnen auf den Sandplatz in das sogenannte Roundpen bzw. den Longierpavillon, bis sie ruhiger sind.
Wurde dir das grosse Trainingspensum als Jugendliche und nun als junge Erwachsene nie zu viel?
Ich habe mich früh dazu entschieden, den Stall dem Freibad vorzuziehen. Klar, als Teenagerin wäre ich schon ab und zu gerne mal häufiger mit meinen Kollegen unterwegs gewesen, aber ich hatte immer schon meine Ziele vor Augen, und die Tiere geben einem auch sehr viel zurück. Ich denke ausserdem, dass ich dank meiner Pferde viel ausgeglichener bin, als ich es ohne sie wäre. Im Umgang mit ihnen lernt man, seine Gefühle zu regulieren. Ist man zu impulsiv, leidet das Vertrauen. Ich hatte aber auch immer gute Freunde. Und ich bin ja nicht das ganze Wochenende im Stall. Am Samstagabend treffe ich mich gerne mit Gleichaltrigen. Da ich keinen Alkohol trinke, bin ich ausserdem meistens die Fahrerin, was meine Kollegen sehr schätzen (schmunzelt). Auch habe ich neben dem Sport keine zeitaufwendigen Hobbys. Früher habe ich Klavierstunden genommen und gesungen. Musik mache ich heute aber nur noch, wenn ich gerade Zeit habe. Ausserdem zeichne ich manchmal. Reiten, Klavierspielen, Zeichnen – diese Kombination klingt schon sehr klischeehaft, wie mir gerade auffällt (lacht).
Liegt bei dem vielen und professionell strukturierten Training überhaupt noch ein ganz entspanntes Ausreiten drin?
Ab und zu machen wir das. Allerdings sind meine Turnierpferde recht sensibel, und die Umgebung unseres Stalls ist nicht ideal für das Ausreiten, da einem oft Traktoren begegnen, die Wege eher schmal sind. Unnötige Risiken vermeide ich daher. Aber auch das Ausreiten trägt zu einem guten Verhältnis zwischen Pferd und Reiter bei und beugt der Monotonie vor.
Diese Abwechslung scheint deinen Tieren gutzutun. Jedenfalls konntest du schon viele Erfolge mit ihnen erzielen. Auf welche blickst du besonders gerne zurück?
Das sind sicher meine drei Schweizer Meistertitel in Folge in der Kategorie U18 von 2016 bis 2018. Seit 2019 starte ich aber für Liechtenstein und kann an der Schweizer Meisterschaft nicht mehr teilnehmen. In der U21 war dann vieles neu – neben dem Land und der Kategorie musste ich auch auf ein jüngeres Pferd, Dharkan, wechseln. Es dauert immer einige Zeit, bis man wieder ein eingespieltes Team ist. Schliesslich habe ich mit Dharkan ein Jahr früher in die Kategorie U25 gewechselt und konnte dort fünf Siege an internationalen Turnieren erringen. Ich war sechste in der Weltrangliste, als sich mein Pferd leider verletzt hat. Nun ist Dharkan wieder gesund. Im März hat die Saison begonnen, und ich möchte in der Weltrangliste an alte Erfolge anknüpfen. Ausserdem steht bald die Europameisterschaft in Budapest an, wo ich selbstverständlich so weit vorne wie möglich sein will.
Wie steht es um das Fernziel Olympische Spiele?
Die habe ich natürlich im Blick. Ich arbeite auf Los Angeles 2028 hin. Dort eine Medaille zu gewinnen, wäre in doppelter Hinsicht ein Traum. Einerseits ist olympisches Edelmetall etwas vom Grössten für einen Sportler, andererseits hat mein Grossvater 1984 in Los Angeles seine ersten beiden von drei Olympiamedaillen für die Schweiz gewonnen. Dafür müsste aber sehr viel zusammenpassen. Das Pferd muss zum richtigen Zeitpunkt fit sein, ich auch, und wir müssen einen guten Tag erwischen.
Ist dieses Zusammenspiel zwischen Pferd und Reiter auch eine der grössten Herausforderungen in deinem Sport?
Definitiv. Meine Pferde sind ebenfalls Leistungssportler, und wenn zwei zusammenarbeiten müssen, ist das Verletzungsrisiko logischerweise doppelt so gross wie in anderen Sportarten. Wir lassen unseren Tieren die bestmögliche Behandlung zukommen. Aber Dressurpferde sind auch auf Eleganz gezüchtet, was sie fragiler und anfälliger macht. Es ist daher wichtig, sie im Training auszulasten, aber nicht zu überlasten. Dharkan ist diesbezüglich zum Glück ein sehr starkes Pferd mit einem riesigen Leistungswillen.
Wird Dharkan dann im Idealfall auch mit dir in Los Angeles antreten?
Eher nicht. Er ist schon 13. Pferde werden zwar bis zu 25 oder gar 30 Jahre alt, dass sie mit 18 oder 19 noch leistungsfähig genug für ein Turnier auf diesem Niveau sind, kommt aber eher selten vor. In der Regel nimmt man sie mit 17 oder 18 Jahren aus dem Turniersport heraus. Das ist auch der Grund, warum ich mehrere Pferde habe. So steht dann wieder ein jüngeres bereit, um seinen Vorgänger im Turnier zu ersetzen oder um einzuspringen, wenn ein Pferd sich verletzt hat.
Wie emotional ist dieser Schritt für dich? Es klingt nach einem Dilemma zwischen der Liebe zum Pferd und dem Leistungswillen.
Der Schritt ist nicht so emotional, wie man meinen könnte. Dharkan bleibt dann ja bei mir, und ich werde ihn auch nach der Turnierzeit bewegen. Das bin ich nicht nur ihm schuldig, sondern auch mir. Über die Jahre entsteht schliesslich eine sehr tiefe Verbindung.
Diese Verbindung hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die Tiere jung zu euch in den Stall kommen.
Natürlich. Es ist zwar möglich, ein erfahrenes Pferd zu kaufen, das sich schon im Sport bewiesen hat. Solche Tiere sind aber einerseits sehr teuer, und andererseits ist es für Pferd und Reiter dann eine grössere Herausforderung, sich aneinander zu gewöhnen. Daher bilden wir sie lieber jung aus. Dank der grossartigen Beziehungen zu wunderbaren Menschen aus der Branche, die mein Opa in den vielen Jahren seiner Tätigkeit mit den Pferden kennengelernt hat, müssen wir meistens nicht lange nach Pferden suchen. Er erhält Tipps, und wenn wir die Züchter dann besuchen, merken wir sehr schnell, ob das Tier Potenzial hat und ob die Chemie zwischen ihm und mir stimmt. Zu jung sollten die Pferde aber auch nicht sein, sondern das Grundlegende bereits beherrschen. 6 Jahre sind ein optimales Alter, um ihnen die Feinheiten des Dressurreitens beizubringen.
Ein völlig anderes Thema: Wie kannst du Sport, Ausbildung und Beruf vereinbaren?
Das war tatsächlich nicht immer ganz einfach. Ich stand vor etwas mehr als vier Jahren kurz vor der Matura, hätte dann aber wohl mit dem Reiten mindestens sechs Monate pausieren müssen, um mich auf die Prüfungen vorzubereiten. Also habe ich mich gegen die Matura entschieden. Ich hatte aber das Glück, dass das Liechtensteinische Olympische Komitee damals eine Lehrstelle für Leistungssportler ausgeschrieben hat und ich sie bekommen habe. 2019 im Sommer habe ich die Stelle angetreten, diesen Sommer steht der Abschluss an. Es handelt sich zwar um einen normalen KVAbschluss. Das Besondere ist aber der Aufbau der Ausbildung. Sie dauert vier statt drei Jahre. Die ersten beiden Jahre sind eine reine schulische Ausbildung an der United School of Sports in St. Gallen. Die letzten beiden Jahre finden im Ausbildungsbetrieb statt, während sich das Schulische auf einen halben Tag pro Woche reduziert. So bleibt immer genug Zeit und Flexibilität für das Training und die Wettkämpfe im näheren und ferneren Ausland.
Ausland ist ein gutes Stichwort. Warum hast du dich für den Nationenwechsel von der Schweiz zu Liechtenstein entschieden?
Ich bin zwar Doppelbürgerin, fühle mich aber nur als Liechtensteinerin. Ich bin in Vaduz geboren, in Schaan aufgewachsen und im Land zur Schule gegangen. Daher wollte ich auch für das Land starten, auf das ich stolz bin. Ausserdem sind wir in Liechtenstein nur zwei Dressurreiterinnen, und es fühlt sich gut an, wenn Turnierveranstalter extra für uns eine Liechtensteiner Fahne organisieren müssen, falls wir bei der Siegerehrung auf dem Podest stehen. Es ist schön, eine Exotin zu sein, und wenn ich Erfolg habe, ist es noch schöner (schmunzelt). Genauso verbunden wie mit dem Land bin ich auch mit Schaan als meiner Heimatgemeinde. Dort fühle ich mich richtig wohl und habe alles, was ich brauche. Ich bin schnell im Wald, wo ich meine Wanderungen nach Oberplanken starten, aber auch den Vitaparcours und die anderen Fitnessgeräte nutzen kann. Zudem habe ich mit meinen Freunden ein paar tolle Treffpunkte, und dass wir jetzt auch noch einen «Kuro» in Schaan haben, ist die Krönung. Ich liebe deren asiatische Gerichte und kehre sehr gerne nach dem Training dort ein. Ich wüsste nicht, was ich mir noch mehr wünschen sollte, um mich optimal auf meine sportlichen Ziele vorzubereiten.